Der jahrelange Rechtsstreit um die Frage, ob die Gießener Bürgerbeteiligungssatzung - die bisher erste und einzige in Hessen – in der jetzigen Form Bestand hat, ist nun rechtskräftig entschieden. Der Verwaltungsgerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Satzung in Teilen nicht rechtskonform sei. Die Stadt hatte den VGH angerufen und die Zulassung der Berufung beantragt. Der VGH führt in seinem Beschluss aus, dass Teile der Satzung den verfassungsrechtlichen Rahmen überschritten, da durch sie für Bürger/innen zusätzliche Rechte geschaffen würden, die über die in der Hessischen Gemeindeordnung eingeräumten Beteiligungsrechte hinausgingen. Außerdem würden die Entscheidungsbefugnisse und -pflichten der zuständigen Organe (Stadtverordnetenversammlung und Magistrat) durch die Gießener Bürgerbeteiligungs-Regeln eingeschränkt. Die Satzung darf in der derzeitigen Form deshalb auch nicht weiter angewendet werden.
Zum Hintergrund: Kurz nach Beschluss über die Satzung im Jahre 2015 hatte das Regierungspräsidium angeordnet, dass das Regelwerk in Teilen wieder aufgehoben werden müsse, weil es nicht rechtskonform sei. Dagegen hatte die Stadt geklagt und war vor dem Verwaltungsgericht Gießen gescheitert. Gegen diesen Beschluss wiederum stellte die Stadt den Antrag auf Zulassung der Berufung vor dem VGH. Die Entscheidung des VG Gießen, welche die Beanstandung des RP bestätigt hatte, ist nun rechtskräftig.
Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher bedauerte in einer ersten Reaktion die Entscheidung des Gerichts: „Mit der Gießener Satzung und ihren neuen Regeln sollten den Bürgerinnen und Bürgern durch verbindliche Verfahren Garantien gegeben werden, dass ihre Stimme im politischen Diskurs ein starkes Gewicht hat und Gehör findet. Die Satzung steht dafür, dass in Gießen Bürgerbeteiligung mehr ist als eine folgenlose Passage in Sonntagsreden.“
Dafür habe seine Vorgängerin im Amt die Regeln erarbeiten lassen. Und diese seien auch bisher gut von der Bürgerschaft genutzt worden, so der OB. Becher erinnerte daran, dass seit Beschluss der Satzung im Jahre 2015 insgesamt elf Bürgeranträge gestellt und beraten und zwei Bürgerversammlungen durchgeführt wurden. Unter anderem der weitreichende Beschluss zur Klimaneutralität 2035 basierte auf einem Bürgerantrag. Gerade das Recht, unter geregelten Voraussetzungen einen Bürgerantrag an die städtischen Gremien zu stellen, und das Recht, eine Bürgerversammlung zu fordern, sind Kernstücke der Satzung. Diese Rechte sind nun aufgehoben. „Vorübergehend“, wie Becher hofft: „Die Satzung ist eine Erfolgsgeschichte und wir werden deshalb unter Berücksichtigung der gerichtlichen Entscheidung nach Wegen suchen, diese Geschichte auch weiterzuschreiben. Dass wir nun dafür Änderungen vornehmen müssen, um die Ziele der Satzung zu erreichen, ist klar. Ich bin zuversichtlich, dass wir einen Weg finden werden, der sich im verfassungsrechtlichen Rahmen bewegt und dennoch die Gießener Bürgerbeteiligungskultur weiter befördert. Es ging nie darum, die repräsentative Demokratie zu beschädigen oder die politische Gremienarbeit einzuschränken. Sie sollte nur bereichert werden.
Wir stehen für die Weiterentwicklung bereits seit langem im Kontakt mit der Aufsichtsbehörde und werden bis zum Sommer einen Vorschlag zur Änderung der Satzung vorlegen. Die Bürgerbeteiligung in Gießen geht weiter. Auch wenn wichtige Regeln zu ihrer Förderung nun vorübergehend außer Kraft sind: Sie pausiert nur.“
Konkret will Becher nun Magistrat und Stadtverordnetenversammlung per Antrag darüber entscheiden lassen, dass die beanstandeten Paragraphen der Satzung aufgrund des Urteils ausgesetzt werden (vor allem die beanstandeten Rechte auf Bürgerfragen, Bürgerantrag und Bürgerversammlung). Und er schlägt vor, spätestens bis zur Sommerpause einen Entwurf für eine Änderungssatzung vorzulegen, in der die beanstandeten Regelungen in der Weise überarbeitet werden, dass sie verfassungskonform sind. „Ich bin froh darüber, dass es seitens des Regierungspräsidenten eine große Bereitschaft dazu gibt, diese Änderungen im Vorfeld eines neuen Beschlusses abzustimmen, so dass sich hoffentlich bald rechtliche Klarheit ergibt, wie es weitergehen kann. Dafür sind die Vorarbeiten auch weit gediehen.“, so Becher abschließend.